Bücherecke mit Rezensionen von Prof. H.-W. Wehling
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Die Energieregion Ruhrgebiet. Eine historisch-statistische Studie.
Dietmar Bleidick. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2023, ISBN 978-3-7560-0731-8, 193 S., zahlreiche Abbildungen, € 49,00
Die Übergabe des letzten Stücks Kohle an den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier markiert zwar das Ende der Steinkohlenförderung im Ruhrgebiet, aber nicht das Ende des Ruhrgebiets als Energieregion. Von den Anfängen im 19. Jh. bis in die Gegenwart fächert der unbestreitbare Experte Bleidick die energetische Entwicklung der Region, die verschiedenen Energieträger und ihre Verbundwirtschaft in der Region sowie die verschiedenen Energiewenden/-transformationen auf und gibt einen, von der Verwendung des Wasserstoffs beeinflusst Ausblick. Unzweifelhaft ist diese Längsschnittstudie ein wichtiger Beitrag zur andauernden (!) Industrieentwicklung des Ruhrgebiets dar und – gerade in ihrer Kompaktheit eine der besten Darstellungen des Energiesektors der Region.
Umso ärgerlicher ist die verlegerische Behandlung dieses Buches. Da das Papier zu dünn ist, scheinen die Rückseiten durch, was insbesondere bei Graphiken misslich ist; diese sind zudem viel zu blass im Druck. Darüber hinaus sind fast alle Karten so stark verkleinert, dass sie selbst mit einer Lupe kaum/nicht lesbar und damit nutzlos sind. Angesichts dieser unterdurchschnittlichen Druckqualitäten und des vergleichsweise geringen Seitenumfangs erscheint schließlich der Preis stark überhöht.
Karl Ganser. Integratives Planen und Handeln.
Anna Kloke, Heiner Monheim, Uli Paetzel. Baukunstarchiv NRW, Verlag Kettler, Dortmund 2023, ISBN 978-3-98741-051-2, 337 S., zahlreiche Abbildungen, € 38,00
Meine erste Begegnung mit Karl Ganser war in den 1990er Jahren in einem Seminar über die Stadtentwicklung des Ruhrgebiets, zu dem ich ihn eingeladen hatte. Studierende trugen über 30 Minuten Kurzreferate mit einigen Thesen vor, Karl Ganser saß in diesen 30 Minuten auf seinem Stuhl – in Pullover und mit Seidenschal – und schaute aus dem Fenster, wortlos und scheinbar desinteressiert. Nach diesen 30 Minuten entwickelte er nahezu zwei Stunden lang sein Bild vom neuen Ruhrgebiet, wie man einen Strukturwandel anzugehen habe, ohne alles Bisherige über Bord zu werfen, sondern wie man in bisher als Entwicklungsballast verschrienen Strukturen und Nutzungen Potentiale und Chancen erkennen sollte, indem man die Perspektiven änderte und das (damals) Utopische zu denken wagte. Obwohl die Seminarzeit längst überschritten war, ging niemand.
Karl Ganser war ein Menschenfänger, und er war ein kommunaler „Störenfried“, wie ihn Ulrich Sierau und andere Kommunalvertreter in ihrem Beitrag in diesem Buch apostrophieren. Es soll ein allgemeines Aufatmen in den Kommunalverwaltungen gegeben haben, als der Direktor Ganser nach Beendigung der Internationalen Bauausstellung Emscher Park das Ruhrgebiet wieder verließ, weil er sie nun nicht mehr mit Projekten überhäufte, diese völlig anders managte als man es bis dahin gewohnt war – und damit meistens auch Erfolg hatte und den Emscherraum, ja das ganze Ruhrgebiet weit über die nationalen Grenzen hinaus als einen neuen und besonderen Aufbruchsraum bekannt machte. Spätestens seit seinem Weggang wurde er zum „Held der Metropole Emscher“ wie ihn Sierau und seine Mitautoren ebenfalls titulieren. Nicht nur hat die von ihm geleitete und inspirierte IBA zahlreiche wegweisende Projekte hinterlassen, sie hat vor allem seitdem integriertes Planen in einem neu bewerteten Ruhrgebiet zur Grundlage des Planungsgeschehens gemacht.
Die vorliegende Veröffentlichung ist eine Hommage an Karl Ganser und gliedert sich nach Grußworten und Vorwort in fünf thematische Blöcke – „Erinnerungen an Karl Ganser“ umfasst persönliche Betrachtungen von Kollegen und Weggefährten, „Aufsätze, Redemanuskripte und Korrespondenzen“ präsentiert wichtige konzeptionelle Veröffentlichungen Gansers, „Karl Gansers Wirken in verschiedenen Fachdisziplinen“ bietet auch Einsichten in seine Tätigkeiten als einer der ersten (organisierten) angewandten Geographen, „Karl Ganser und die IBA Emscher Park: Idee, Umsetzung, Folgen“ behandelt wichtige Aspekte des für den Emscherraum so wichtigen und nachhaltigen Jahrhundertprojekts und „Von Karl Ganser und von der IBA angestoßene (Folge-)Projekte“ stellt Beziehungen u.a. zum Emscherumbau, zur „Metropole Ruhr“, zur Industriekultur, zur Ruhrtriennale und zur IBA-see
EmscherSkizzen. Menschen und Orte im neuen Emscherland
Christoph Hübner/Gabriele Voss, 66 Kurzfilme (2006-2015). DVDs, Essen (Klartext) 2022, € 14,95
Streaming-Dienste fordern nicht selten zu Serienmarathons auf. Hier haben Sie die Möglichkeit. Die filmische Arbeit von zehn Jahren hat in 66 Kurzfilmen mit zusammen fast zehn Stunden ein Porträt dieser abwechslungsreichen Landschaft hervorgebracht. Entsprechend abwechslungsreich sind die Filmthemen und ihre stilistische Umsetzung die Szenerien sind mit Geduld beobachtet; Landschaften und Orte werden nicht zu kurzen Impressionen zerschnitten, nicht selten überwiegen die langen Einstellungen. Die filmischen Eindrücke werden von den Autoren nicht kommentiert. Zu Wort kommen allerdings Spaziergänger und Rentner, alteingesessene Bauern und Jugendliche mit Migrationshintergrund, Künstler mit neuen Perspektiven, insgesamt Menschen, die sich ihre eigenen Gedanken machen, was da für eine veränderte Welt vor ihren Augen entsteht. Lehnen Sie sich zurück und lassen sie die Emscherlandschaft von der Quelle bis zur Mündung an sich vorbeiziehen.
Die Emscher. Bildgeschichte eines Flusses – Beyond Emscher. Fotografische Positionen aus der Gegenwart – Emscher 2021+. Die neue Emscher kommt – Sozial-ökologischer Umbau einer regionalen Stadtlandschaft
Heinrich Theodor Grütter/Uli Paetzel (Hg.), Die Emscher. Bildgeschichte eines Flusses. Essen (Klartext) 2022, 288 S., ISBN 9783837525311, € 29,95
Heinrich Theodor Grütter/Uli Paetzel (Hg.), Beyond Emscher. Fotografische Positionen aus der Gegenwart. Köln (Wienand) 2022, 303 S., ISBN 9783868327069, € 29,80
Uli Paetzel/Dieter Nellen/Stefan Siedentop (Hg.), Emscher 2021+. Die neue Emscher kommt – Sozial-ökologischer Umbau einer regionalen Stadtlandschaft. Berlin (jovis) 2022, 327 S., ISBN 9783868597486, € 55,00
Vor allem die Ausstellungen im Ruhrmuseum und ihr Begleitprogramm zur Emscher, ihrer Entwicklung und ihrer fast zum Abschluss gebrachten Umgestaltung haben eine Reihe von interessanten Veröffentlichungen hervorgebracht.
Da ist zunächst der Ausstellungskatalog „Bildgeschichte eines Flusses“, der in sieben Kapiteln die Entwicklung der Emscher vom vorindustriellen mäandrierenden Flachlandfluss (Die alte Emscher) über den Industriefluss bis zum postindustriellen, landschaftlich gestalteten oberirdischen Teil eines technisch einmaligen regionalen „Wasserbauwerks“ darstellt. Gemälde, technische Zeichnungen, Landkarten sowie eine Fülle von Fotos, die die historische und aktuelle technische Entwicklung, die Bedeutung des Wassers in der Emscherniederung, technische Bauwerke und Lebensverhältnisse entlang des Flusses dokumentieren, machen den Reiz dieses Buchs aus. Aus geographisch-kartographischer Sicht ist hervorzuheben, dass in diesem Band die interessanten und selten publizierten historischen Karten besondere Fürsorge erfuhren und sie nicht, wie so häufig, aus „Platzgründen“ bis zur Unleserlichkeit miniaturisiert oder gar durch den Bund gezogen wurden. Wer den zweimaligen Wandel dieses Raums nachvollziehen will, dem sei dieser Band uneingeschränkt empfohlen.
Das Gebiet beiderseits der Emscher ist nicht nur seit über 100 Jahren ein regionales Entwässerungsgebiet, sondern seit den Hochzeiten der industriellen Entwicklung Arbeits- und Lebensraum; besondere, teilweise unvollkommene städtische Strukturen mit eigener optischer Faszination sind sein Charakteristikum. Hier setzt der zweite Ausstellungskatalog „Beyond Emscher“ an und präsentiert aus dem Projekt „emscherbilder“ die sehr unterschiedlichen Sichtweisen von 17 Fotograf*innen auf diesen Raum aus den Jahren 2016 bis 2022; insgesamt geht es um folgende Themen: Verschiedene Uferansichten – Innenansichten des Hauses D, Phoenix See – Bewohner des Lebensraums rund um den Phoenix-See – „Insellagen“ vom Emscherdelta bis zur Emscherquelle – Drei Höfe – Freiheit Emscher (Blicke auf die Brache) – Häfen im nördlichen Ruhrgebiet – Chongqing Express (Die neue Seidenstraße) – Wanderarbeiter am Klärwerk Dinslaken (und ihre polnische Heimat) – 13 Porträts/13 Geschichten (Bewohner des Lebensraums entlang der Emscher)– Feldforschung-Herbarium – Zwischen zwei Strömungen (Emscher und Rhein-Herne-Kanal) – Besucherin (Wohnverhältnisse) – Naherholung und Ökologie am Rückhaltebecken in Ickern und Mengede – ohne Titel (Porträts). Allen Fotostrecken sind Konzeptbeschreibungen der Fotograf*innen beigegeben, die ihre Intentionen erläutern. Erwartungsgemäß präsentieren diese Fotos den Raum
Das Moltkeviertel in Essen. Die etwas andere Gartenstadt
Berger Bergmann/Peter Brdenk (Hg.), Essen (Klartext) 2022, 84 Seiten, ISBN 9783837525601, € 14,95
Die vorliegende Veröffentlichung ist ein weiterer Band in der von den Herausgebern betreuten Reihe „Architektur in Essen“ und kann sich – wie in der Einführung festgestellt wird – auf eine breite Basis vorhandener Literatur stützen. Daher erscheint die Zielsetzung des Buches etwas bemüht. So soll vor allem ein städtebaulicher Bezugspunkt gesetzt und die Straßennamen gebenden Architekten des Viertels in ihrer (zukunftsweisenden) Bedeutung für den deutschen und internationalen Städtebau herausgestellt werden. Für diese ergänzende Sichtweise wird einer Gruppe junger Kunsthistorikerinnen eine Publikationsplattform geboten; dies als „generationsübergreifende“ Umsetzung zu adressieren, erscheint jedoch ein wenig überzogen.
Die Veröffentlichung beginnt mit einer räumlichen und historischen Einordnung des Viertels in die Essener Stadtentwicklung, dies mit Bezügen zu Robert Schmidt, der Gartenstadt-Idee, dem Verhältnis von Gestaltung und Topographie sowie den getroffenen planerischen Festlegungen. Das nächste Kapitel schlägt einen Bogen von einer Betrachtung der verschiedenen Bauphasen mit ihren Stilentwicklungen/-änderungen, über die Betrachtung von Einzelbauten und der Kunst im Moltkeviertel bis hin zu einer Erwähnung berühmter Bewohner des Moltkeviertels. Es folgt die eingangs erwähnte biographische Behandlung der namensgebenden Architekten sowie eine etwas stiefmütterliche der Architekten, die das Moltkeviertel eigentlich gestaltet haben. Der Band schließt ab mit den üblichen Verzeichnissen und einer Aufzählung der Vereine des bürgerlichen Engagements im Moltkeviertel.
Dieses einmal wieder der Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu bringen scheint das wesentliche Motiv für diese Veröffentlichung gewesen zu sein. Da die meisten Fakten bekannt sind, ist der Erkenntnisgewinn gering und die biographischen Darstellungen der namensgebenden Architekten kommen über seminaristische Fleißarbeiten nicht hinaus.
Geofaktor Mensch
Soeben erschienen ist das neue Buch "GEOFAKTOR MENSCH" unseres Beiratsmitglieds DR. DIETHARD E. MEYER.
Verlag Springer Nature- Springer Spektrum
Hardcover (ISBN 978-3-662-63849-1)
eBook-Fassung (ISBN 978-3-662-63851-4)
Das Werk bietet allgemein verständlich ein breites Spektrum über Umwelteingriffe und deren Folgen auf den Festländern, im Meer und in der Atmosphäre und zeigt die Folgen für Mensch, Tier- und Pflanzenwelt. Es enthält ca. 95 Abbidlungen und zahlreiche Tabellen und Übersichten.
Das Ruhrgebiet im Ersten Weltkrieg. Technik und Wirtschaft.
Das Ruhrgebiet im Ersten Weltkrieg. Technik und Wirtschaft.
Manfred Rasch: Das Ruhrgebiet im Ersten Weltkrieg. Technik und Wirtschaft. Münster (Aschendorff) 2022, 553 S., zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-402-13334-7
Wenngleich der Autor in seinem Resümee am Ende des Buches noch zahlreiche Desiderate im Hinblick auf das Thema des Ersten Weltkriegs und der Entwicklung und des Verhältnisses von Technik und Wirtschaft konstatiert und seine vorliegende Veröffentlichung als überblickshafte regionale Studie mit technikgeschichtlichen Fragen bezeichnet, so bedeutet „überblickshaft“ hier nicht „oberflächlich“, sondern der Autor erschließt hier in großer thematischer Breite eine wirtschaftsgeschichtlich wichtige Periode in der Ruhrgebietsentwicklung. Die 23 Kapitel folgen einer überzeugenden Sachlogik. Nach der Darstellung der wirtschaftlichen Sofortmaßnahmen nach Kriegsbeginn werden die Produktion von Sprengstoffvorprodukten, die Gewinnung flüssiger Treib- und Schmierstoffe, die Munitionserzeugung und Geschützproduktion, die Marine- und Luftrüstung sowie die Herstellung sonstiger Kriegsprodukte analysiert. Es folgen Kapitel über die Eisenbahnentwicklung sowie über die Energie-, Rohstoff- und Lebensmittelversorgung. Zivile und militärische Bautätigkeit sowie Instandhaltungsmaßnahmen infolge Kriegszerstörungen bilden den nächsten Schwerpunkt. Das Hindenburgprogramm zur Förderung der Kriegsproduktion entfaltete im Ruhrgebiet eine große transformatorische Kraft, erzeugte jedoch auch technische Probleme. Es erforderte die Entwicklung einer Reihe von Ersatzstoffen und war angesichts des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels nur durch den Einsatz von Frauen und die Zwangsrekrutierung von Zwangsarbeitern und Strafgefangenen zu erfüllen. Die Berliner Politik nahm zunehmenden Einfluss auf die Gestaltung der regionalen Wirtschaft, die „Waffenschmiede“ wird geboren und übt eine hohe Attraktion auf verschiedene Politiker- und Interessengruppen auf. Ergebnisse der Kriegswirtschaft waren zum einen erhebliche Kriegsgewinne der Unternehmen, zum anderen deren Konzentrationstendenzen. Das Kriegsende brachte grundlegende politische Veränderungen auf nationaler und regionaler Ebene mit sich, denen zeitweilige wirtschaftliche Abbrüche folgten, die wiederum wirtschaftliche Neuausrichtungen notwendig machten und neue Interessensgemeinschaften entstehen ließen. Dennoch wurden in den gut fünf Jahren, die dieses Buch zeitlich umfasst, auch nachhaltige Wirtschaftsstrukturen aufgebaut und innovative technische Entwicklungen auf den Weg gebracht, die dazu beitrugen, dass das Ruhrgebiet etwa 1936/37 seinen organisatorisch-technischen Höhepunkt erreichten konnte, bevor es – wenngleich mit anderen inneren Strukturen wieder zur „Waffenschmiede“ des deutschen Reichs wurde. Dieses Buch von Manfred Rasch ist faktenreich, vielschichtig und inspirierend. Indem es „überblickshaft“ ist, zeigt es an vielen Stellen auf, wo es sich lohnt, andere Quellen zu erschließen oder weitergehende Forschungen zu betreiben.
Zur Entstehung der deutschen Stadt vom Reichsdeputationshauptschluss (1803) bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.
Zur Entstehung der deutschen Stadt vom Reichsdeputationshauptschluss (1803) bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.
Carsten Jonas, Berlin (Wasmuth & Zohlen) 2021, 244 S., zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-8030-2103-8
Die vorliegende Veröffentlichung ist die Druckfassung mehrerer Vorlesungen des Verfassers. Für die Zeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts werden die Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung skizziert und die städtebaulichen Strömungen und Zielsetzungen präsentiert. In den meisten Fällen werden sie durch prägnante Beispiele erläutert. Das Buch bietet programmatisch nichts Neues, sondern alle Erkenntnisse sind aus vorliegenden Büchern zur Stadtgeographie und zur Entwicklung des Städtebaus in Deutschland hinlänglich bekannt. Dem Buch ist eine Vielzahl in ihrem Erklärungspotential bereits in den vorhandenen Büchern erprobter Abbildungen beigegeben; die Mehrzahl von Ihnen ist jedoch stark, manchmal bis zur Unleserlichkeit miniaturisiert worden, wodurch der Lehrbuchcharakter des Buches deutlich geschmälert wird.
Geschichte(n) des Bistums Essen in 30 Objekten.
Geschichte(n) des Bistums Essen in 30 Objekten.
Florian Bock, Sebastian Eck, Miriam Niekämper, Lea Torwesten (Hg.). Münster (Aschendorff) 2021, 196 S., zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-402-24774-7
Seit dem Bestseller „A History of the World in 100 Objects“, das Neil MacGregor, seinerzeit Direktor des British Museums, 2010 herausbrachte, erzählen Museologen Geschichte gerne durch die Präsentation einzelner, manchmal scheinbar banaler Ausstellungsstücke. Mittels 30 ausgewählter aussagekräftiger Exponate (Bauten, Skulpturen, Gegenstände) an unterschiedlichen Standorten im Gebiet des Bistums Essen werden deren und dessen Geschichte(n) erzählt. Zeitlich sind die Objekte in die Zeit seit der Bistumsgründung) im Jahre 1958 einzuordnen, weisen jedoch inhaltlich z.T. weit in die Vergangenheit zurück. Die Darstellung eröffnet die Spendentüte von 1959, die für Zuwendungen zum Bau des Priesterseminars in Essen-Werden bestimmt war, und endet mit der Christkönigverehrung in Kirchenbau und Liturgie und mit der Neunutzung der Heilig-Kreuz-Kirche in Gelsenkirchen-Ückendorf als Multifunktionshaus. Dazwischen gibt es den Konzilssitz S585 von Bischof Hengsbach aus dem Jahr 1965, den Wohnwagen, den das Bistum zur Touristenseelsorge ab 1967 in die Dünen von de Koog auf der holländischen Insel Texel stellte, den Souvenir-Lolli vom Papstbesuch 1987, das Dialogkreuz von 2013 als Symbol für den im Bistum eingeleiteten pastoralen Weg bis zum Pannini-Sammelbild der Goldenen Madonna von 2015. Die 30 Objekte spiegeln die räumliche, zeitliche und thematische Vielfalt im Bistum Essen wieder, bieten aber auch manch vordergründig Überraschendes.
Die Ruhr und ihr Gebiet. Leben am und mit dem Fluss.
Die Ruhr und ihr Gebiet. Leben am und mit dem Fluss.
Bodo Hombach (Hg.), ISBN 978-3-402-24640-5, €39,90
Dieses auf zwei Bände und 800 Seiten ausgedehnte Buch ist ein „inhaltlich beschränktes“, weil bewusst rückbesinnendes. Darstellungen der Entwicklung des Ruhrgebiets beginnen immer an der Ruhr, im Sog der industriellen Expansion verlassen sie das Ruhrtal meist schon um 1860 und wenden sich den „dynamischeren“ Bereichen beiderseits der Emscher zu. Das rheinisch-westfälische Industriegebiet mutierte in den 1920er/1903er Jahren zum Ruhrgebiet – zu einem Zeitpunkt, als der Produktionsschwerpunkt längst weiter nach Norden gewandert war und die Bereiche beiderseits der Ruhr strukturell längst nicht mehr repräsentativ für diese Industrieregion waren. Dieses Buch folgt nur gelegentlich dem vorgezeichneten Trend, sondern bleibt an der Ruhr – von der vorindustriellen Zeit bis in die Gegenwart und in einer großen inhaltlichen Breite.
Der Band (Heimat Ruhr: Fluss, Tal, Siedlung seit Anfang des 19. Jahrhunderts) widmet sich dem „Naturraum Ruhr“, dem „Naturwirtschaftsraum Ruhr“, mit dem die Landwirtschaft, der Weinbau, das Fischereiwesen …. gemeint ist, dem „Wohnraum Ruhr“ (Leben am Fluss, Stadtplanung, Wohnverhältnisse …) und dem „Kulturraum Ruhr“ (Kunstobjekte, Museum, Industriekultur, Ruhrliteratur …). Der Band (Fluss, Industrieregion, Strukturwandel seit Anfang des 19. Jahrhunderts) geht zunächst unter dem Titel „Wirtschaftsraum Ruhr“ der Bedeutung der Ruhr innerhalb der regionalen Industrialisierung nach, der „Verkehrsraum Ruhr“ behandelt die Ruhrschifffahrt und die Eisenbahnen im Ruhrtal mit allen Wandlungen bis in die Gegenwart, der „Wasserwirtschaftsraum Ruhr“ die Bedeutung der Ruhr als regionaler Wasserversorger. Unstrittig ist heute der Freizeitwert von Ruhr und Ruhrtal. Dementsprechend behandelt der „Sport- und Freizeitraum Ruhr“ die ungeplante Freizeitnutzung, das organisierte Baden, den Wassersport, den Angelsport, das Wandern auf den Ruhrhöhen und nicht zuletzt das Kaffeetrinken in einem der zahlreichen Restaurants mit Blick auf die Ruhr. Insgesamt präsentieren die beiden Bände eine mit bekannten, mehrheitlich jedoch unbekannten Abbildungen gut ausgestattete Vielzahl von Blickwinkeln auf die Ruhr, dank einer guten Editierung sind Wiederholungen selten. Die Brost-Stiftung hat sicherlich dazu beigetragen, dieses attraktive Werk auch zu einem attraktiven Preis zu ermöglichen.
Vom Ruhrgebiet zur Metropole Ruhr, SVR KVR RVR 1920-2020
Vom Ruhrgebiet zur Metropole Ruhr, SVR KVR RVR 1920-2020
Karola Geiß-Netthöfel, Dieter Nellen, Wolfgang Sonne (Hg.), Berlin 2020, ISBN 978-3-86859-584-0, €45,00
Das hundertjährige Bestehen von SVR/KVR/RVR ist Anlass für dieses mit schwerem Papier und Silberschnitt haptisch und optisch designte großformatige coffee-table book; es ist ein Buch der Selbstdarstellung – des Verbandes und der Region. Ausgesucht schöne Bilder begleiten die Kurzdarstellungen von RVR-Mitarbeitern in den Großkapiteln zur „Geschichte und Gegenwart“ des Verbandes, zur „Leitstrategie und Programmagenda“ des RVR 20/21+ und zum Thema „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“. Sechs essayistische Betrachtungen externer Beobachter runden den Band ab – Claus Leggewie zur Wunschvorstellung Metropole Ruhr, Wolfgang Sonne zu 100 Jahren Ruhrstädtebau, Stefan Siedentop zur Transformation einer verspäteten Region, Stefan Leiner zur grünen Infrastruktur, Dieter Nellen zur IBA und ihren Nachwirkungen und Christoph Zöpel zur postmontanindustriellen Kulturlandschaft Ruhr. Dem regional Kundigen bietet dieses Buch keine neuen Erkenntnisse; das war jedoch auch nicht seine Absicht. Es ist vielmehr aus gegebenem Anlass ein in Text und Bild gut informierender und durch ein klares Bild-Text-Konzept attraktiver Jubiläumsband für eine interessierte Öffentlichkeit.
Aus rein geographischer Sicht ist schließlich noch positiv anzumerken, dass gute kartographische Darstellungen des RVR einmal nicht bis zur Unleserlichkeit miniaturisiert wurden, sondern ihnen mit Klappkarten ein verdienter Stellenwert gegeben wurde.
Kohle, Koks und Kolonie. Das Verbundbergwerk Gneisenau in Dortmund-Derne
Kohle, Koks und Kolonie. Das Verbundbergwerk Gneisenau in Dortmund-Derne
Gabriele Unverferth, Münster 2020, ISBN 978-3-402-24641-2, €49,90
Zu den „Schätzen“ in der regionalen Bergbauliteratur gehören die Darstellungen der Schachtanlagen der Vereinigten Stahlwerke aus den 1930er Jahren. An diese Tradition knüpft die Verfasserin ausdrücklich an, geht aber mit Hilfe ehemaliger leitender Mitarbeiter des Verbundbergwerks sowie der Fachleute aus den verschiedenen Förder- und Geschichtskreisen um die Zeche Gneisenau deutlich darüber hinaus, indem die Entwicklung der Zeche Gneisenau in die Geschichte des Ruhrbergbaus im Allgemeinen und der Harpener Bergbau-AG im Besonderen eingebunden wird. Entstanden ist so ein Werk, das auf über 400 Seiten und ausgestattet mit über 600 Abbildungen in tiefer Gliederung von der Darstellung der Berechtsame, der Besitzverhältnisse und der geologischen Verhältnisse ausgehend sich zunächst der Entwicklung der Schachtanlagen Gneisenau bis 1945 zuwendet. Es folgen die Entwicklungen im Bergwerksbetrieb, die Arbeits- und Versorgungsverhältnisse der Bergarbeiter einschließlich des Wohnungsbaus und des Vereinswesens, die Darstellung der Entwicklung vom Wiederaufbau bis zur Stilllegung sowie der vielfältigen Neunutzungen auf dem Gelände. Der Anhang umfasst Zeittafeln, mehrere Lagepläne, Baufelderkarten und Schachtschnitte, Statistiken über Förderung, Kokserzeugung und Belegschaft, die Erläuterung bergbaulicher Fachbegriffe sowie das Literatur- und Quellenverzeichnis. Das Verbundwerk Gneisenau war ein großes und leistungsfähiges Bergwerk, das fast ein Jahrhundert sein räumliches Umfeld geprägt und das Leben von Generationen von Bergleuten und ihren Familien bestimmt hat. Dieses empfehlenswerte Buch ist in hohem Maße geeignet, die Erinnerung an dieses Bergwerk aufrecht zu erhalten.
Gute Karten. Deutschland, wie Sie es noch nie gesehen haben.
Gute Karten. Deutschland, wie Sie es noch nie gesehen haben.
Tin Fischer. Hamburg 2020, ISBN 978-3-455-00882-1, €25,00
Bücher wie diese, hat es schon häufiger gegeben. Es geht nur in einigen Fällen um Karten im engeren Sinne, die meisten gebotenen Darstellungen sind Kartogramme. Es gibt einfache Verteilungskarten (der Ortsnamensendungen oder idiomatischer Ausdrücke, der Kartoffel- oder Weintraubenproduktion oder der Tennisplätze und Swimmingpools), kartenbezogene Darstellungen „unnützen“ Wissens (die Sprachgrenze von „schiena“ und „kina“ für China; in Sachsen-Anhalt werden am meisten Sexstellungen gegoogelt; die Höhe des Hermannsdenkmals im Vergleich zu anderen Denkmälern weltweit), bekannte Kartenverformungen wie die Sicht der Münchner auf Deutschland, sinnfreie Größenvergleiche zwischen der Größe des Spaßbades Tropical Islands in Brandenburg und dem Vatikan oder der Mitgliederzahl der katholischen Kirche und des ADAC. Es gibt aber durchaus witzig-interessante und wissenschaftlich interessante Fragestellungen (Wo liegt Schwaben; Größenvergleich zwischen Deutschland und ähnlich großen Ländern weltweit; ungleiche Verteilungen der Menschen, Schweine und Kühe in Deutschland; bevorzugte Zielgebiete deutscher Auswanderer; regionale Spezialitäten; Laufentfernung zu Basiseinrichtungen wie Apotheke, Grundschule, Bushaltestelle oder Supermarkt; die Unterrepräsentanz Deutschlands in Google Street View im europäischen Vergleich; die Drogenbelastung der Abwässer). Das Kartendesign ist ansprechend, mäßig generalisierend und farblich wohltuend zurückgenommen. In etlichen Fällen hätte man sich aber mehr Text gewünscht, einerseits dann, wenn es der Kartographie nicht ganz gelingt, die Aussage zu transportieren, und anderseits, wenn sie genau dies tut und weitere Fragen aufwirft.
Unruhige Zeiten. Politische und soziale Unruhen im Raum Essen 1916-1010.
Unruhige Zeiten. Politische und soziale Unruhen im Raum Essen 1916-1010.
Klaus Wisotzky, Münster 2019, ISBN 978-3-402-14209-7, €29,90
Das Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv hat eine neue Veröffentlichungsreihe begründet und eröffnet sie mit dieser wichtigen Arbeit ihres ehemaligen Leiters.
Verelendung, Tod und Gewalt, politische und wirtschaftlich Umbrüche, soziale Unruhen und Streiks machten die letzten Jahre des Ersten Weltkriegs und das Revolutionsjahr zu unruhigen Zeiten. In 14 Kapiteln unterschiedlicher Länge bricht Klaus Wisotzky diese nationalen Verhältnisse und Prozesse auf die lokale Ebene der Stadt Essen herunter. Die Schwerpunkte liegen dabei auf den Streikaktionen während des Krieges, der Tätigkeit des Arbeiter- und Soldatenrates, den Parteien und der Wahl von 1919, auf der Umstellung von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft und ihren teilweise durchgreifenden Auswirkungen, auf der Bergarbeiterbewegung von 1916 bis 1919 und auf dem Generalstreik von 1919. In einem Schlusskapitel gibt Wisotzky eine vergleichende Bewertung und Einordnung der Ereignisse. Detailreich und auf einer breiten Quellenbasis geschrieben ist dieses Buch ein würdiger Beginn der neuen Veröffentlichungsreihe.
Weiter bauen. Werkzeuge für die Zeitschichten der Stadt.
Weiter bauen. Werkzeuge für die Zeitschichten der Stadt.
Alexandra Apfelbaum, Yasemin Utku, Christa Reicher, Gudrun Escher, Magdalena Leyser-Droste, Beiträge zur städtebaulichen Denkmalpflege, Band 9, Essen 2019, ISBN 978-3-3875-2111-5, €24,95
Städtebauliche Entwicklung setzt auf städtebaulichem Bestand auf; damit hat Denkmalschutz nicht nur eine bewahrende Funktion, sondern beeinflusst auch die zukünftige Entwicklung, vermag ihr in Maßen sogar eine Perspektive zu geben. Unter diesem Gedanken stand die Jahrestagung 2017 der Dortmunder Fachgruppe Städtebauliche Denkmalpflege, deren Beiträge in diesem Band unter den Überschriften „Zeitschichten erfassen“, „Werkzeuge erproben“ und „Historie weiterbauen“ zusammengestellt wurden. Zu den dabei vorgestellten regionalen Beispielen gehören in Münster die Speicherstadt Coerde und die Bebauung des Geländes der ehemaligen York-Kaserne, die Reflektion über die Ruhrmoderne in Marl, Formen des „Brutalismus“ in Köln und die Stadterneuerung entlang der Bochumer Straße in Gelsenkirchen
Stadtbaukultur NRW: Architektur der 1950er bis 1970er Jahre im Ruhrgebiet/ Architecture of the 1950s to 1970s in the Ruhr Area.
Stadtbaukultur NRW: Architektur der 1950er bis 1970er Jahre im Ruhrgebiet/ Architecture of the 1950s to 1970s in the Ruhr Area.
Tim Rieniets, Christine Kämmerer, Dortmund 2018, ISBN 978-3-86206-755-8, €25,00
Der in diesem Buch betrachtete Zeit war in der Stadtentwicklung des Ruhrgebiets zweigeteilt, umfasst er doch zunächst den wirtschaftlichen und städtebaulichen Aufbruch der Nachkriegszeit, in der manche Industriestadt sich mit innovativer/avangardistischer Stadtarchitektur neu zu definieren suchte, zum anderen gehört dazu der Zeitraum, in dem – zum Teil in einem living lab – städtebauliche Dominanten entstanden, die die funktionalen Defizite überwinden helfen sollten. So versammelt dieser Band, thematisch gegliedert, in englischer und deutscher Sprache Würdigungen von 53 herausragenden Bauten und Anlagen im Ruhrgebiet aus diesen zwei Jahrzehnten, z.B. die Neue Stadt Wulfen, den Wohnhügel von Marl, das Schauspielhaus in Bochum und das Musiktheater in Gelsenkirchen, das Karstadt-Gebäude in Herne, die Karstadt-Hauptverwaltung in Essen, die Heilig-Geist-Kirche in Essen oder die Heilig-Kreuz-Kirche in Bottrop. Ein insgesamt in Text und Bebilderung informatives Buch, da sich auch gut als Grundlage für eine entsprechende Entdeckungstour eignet; zu bemängeln ist lediglich der recht hohe Preis.
Versemmelt. Das Ruhrgebiet ist am Ende.
Versemmelt. Das Ruhrgebiet ist am Ende.
Stefan Laurin, Bottrop 2019, ISBN978-3-942094-98-6, €9,90
Dieses Buch präsentiert die bekannten Geschichten vom Ruhrgebiet und seiner Entwicklung, von der Gründung des innovativen Siedlungsverbandes, von seinem umwälzenden Strukturwandel, von seinem Image und den Bemühungen es zu verändern – aber nicht in der akzeptierten Mainstream-Version. Der Autor kommt zu ähnlichen Befunden wie 2017 Bogumil, Heinze, Lehner und Strohmeier in „Viel erreicht – wenig gewonnen“; aber wo damals die Haltung der Autoren professoral-distanziert „realistisch“ war, ist Stefan Laurin – manchmal mit einer resignierenden Müdigkeit – bitter-böse subjektivin seinen Erkenntnissen: das Ruhrgebiet war immer eine Goldgräberregion, die durch ihren wirtschaftlichen Verfall weder mental noch kulturell zu einer Metropole wird; der Strukturwandel milderte den Arbeitsplatzverluste, war aber nicht nur finanziell, sondern auch hinsichtlich der Ideen von außen gesteuert; die Abhängigkeit von, zunehmend jedoch das permanente Schielen nach Fördermitteln erstickte fast jede Eigeninitiative; der einst innovative Thinktank SVR/KVR/RVR ließ sich zunehmend entmachten, nicht zuletzt wegen der Unfähigkeit seines Spitzenpersonals in den letzten Jahrzehnten; die (notgedrungen) selbst betriebene Kooperation der Städte wird ihn weiter der Bedeutungslosigkeit zuführen; große Initiativen wie die IBA und die Kulturhauptstadt sind durch den regionalen Dilettantismus verpufft; die Gründung eines notwendigen Regierungsbezirks Ruhrgebiet scheitert an inneren und äußeren diffundierenden Kräften; das Ruhrgebiet scheint mittlerweile zum Gegenentwurf der zumindest teilweise blühenden Landschaften in den neuen Bundesländern geworden zu sein. Insgesamt ist das empfehlenswerte Buch keine Mainstream-Darstellung, es werden aber auch keine „alternativen Fakten“ präsentiert, sondern nur eine andere – engagierte – Sichtweise, die möglicherweise die wahrere ist.
Ein Traum in bunt. Entdeckung Ruhrgebiet.
Stefan Thoben (2021): Ein Traum in bunt. Entdeckung Ruhrgebiet. Verlag Andreas Reiffer, Meine, 238 S., ISBN 97839455715734, € 28,00
Das Image des Ruhrgebiets ist von Beginn an von Ansichten und Sichtweisen von außen beeinflusst worden. Levin Schücking bewunderte die Schnelligkeit und Neuartigkeit der industriellen Entwicklung, Joseph Roth war fasziniert und irritiert zugleich von der Unordnung und Hässlichkeit der dabei entstehenden Industrielandschaft, Heinrich Böll war besoffen vom Arbeitermythos und Chargesheimer lieferte die passenden Schwarzweiß-Fotos dazu, die die Realität so passend abzubilden schienen. In den folgenden Jahrzehnten, in denen die industriellen Grundlagen schwanden, „Strukturwandel“ – welcher auch immer – zum Mantra wurde und Willy Brandt den Himmel wieder blau werden ließ, klafften Image und Realität zunehmend auseinander. Die Einheimischen, aus denen Werbeagenturen die „Ruhris“ aus dem „Pott“ machten, wurden nicht müde, auf die epochalen Veränderungen hinzuweisen, die der Strukturwandel hervorbrachte und sie freuten sich über Sätze der Besucher wie „Es ist ja alles so grün hier“, denn sie sahen sich in ihren eigenen Einschätzungen bestätigt. Zwanzig Jahre später begegneten sie demselben Satz mit Ermattung und Resignation, denn er zeigte, dass sich das Image des Ruhrgebiets trotz allem nicht verändert hatte. In Sätzen wie „Ich vermag auch im Hässlichen die Schönheit zu erkennen, ich komme aus dem Ruhrgebiet“ machte sich beim als weltoffen und extrem freundlich verschrienen Einheimischen leichter Sarkasmus breit.
Auf diese oder eine ähnliche Gemütslage trifft dieses Buch, dessen Autor Stefan Thoben von so etwas wie dem anderen sozio-ökonomischen Ende – aus Hannover – kommt und 27 Tage mit dem Fahrrad durch das Ruhrgebiet fährt, Eindrücke aufnimmt und fotografiert. Im Ergebnis gibt es ebendiesen weltoffenen Ruhri, gelegentlich behindert durch sein regionales Idiom von Mangerscher Schönheit, und das ländliche Idyll vor Industriekulisse; die Karl-Ernst Osthaus Villa steht bildlich neben den Schuhkarton-Wohnungen an der Karl-Ernst-Osthaus-Straße; hinzu treten Pommes rot-weiß und Fußballstadien, Zeche Zollern und Siedlungshäuser mit Eternit-Verkleidung, Street Art und Fördergerüste, Kanalufer, Naturschutzgebiete und Senkungsseen, noch funktionierende Vorortkneipen, Nobelrestaurants und solche mit chinesisch-deutschen-italienischen Spezialitäten, Trinkhallen und anerkannte neue Landmarken, Golfplätze, verstaubte Hotels der 1970er Jahre, Helmut Rahn und Willy Lippens, scheinbar endlose Wellblechfassaden von Poco und künstlerisch gestaltete von Rockwool, Brücken und Industriekultur, Museen und Theater, Baugigantomanie und kitschige Sonnenuntergänge, neue Rockgruppen und die letzten Taubenväter, Duisburger Brautmodenläden und Villa Hügel, Himmelstreppe und Tagesbruch, Wissenschaftspark und Ruhrpark. Dass Thobens Reise nicht auf ein Buchprojekt hin vorbereitet und recherchiert wurde, sondern seine „Grand Tour“ eine persönliche Entdeckungsreise war, ist dem Ergebnis zugutegekommen. Spontane Begegnungen
Ruhrgebiet. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten/ Bergbau. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten
Tina Halberschmidt/Martin Wedau (2021): Ruhrgebiet. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten. Klartext, Essen, 104 S., ISBN 9783837523836, €14,95
Dieter Bleidick (2021): Bergbau. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten. Klartext, Essen, 104 S., ISBN 9783837523133, € 14,95
Die Titel beider Taschenbücher sind irreführend; denn präsentiert werden bestenfalls einige konstruierte Irrtümer, vor allem aber eine Reihe von Fakten zum Ruhrgebiet und zu seinem Bergbau. Diese Fakten werden als Wissenshäppchen auf zwei, manchmal auf einer Seite präsentiert und sind mit „Aha“ oder „Aha EXTRA“ markiert (wobei der Unterschied zwischen diesen beiden Markierungen aus dem jeweiligen Inhalt nicht ersichtlich ist). Die extreme Aufsplitterung der qualitativ sehr unterschiedlichen Informationen erscheint weitgehend als der untaugliche Versuch, Leser mit einer vermeintlich geringen Aufmerksamkeitsspanne anzusprechen. Dies führt jedoch auch dazu, dass wirklich interessante Themen, die eine ausführlichere Darstellung verdient hätten, auf rudimentäre Aussagen zusammengestrichen werden.
Die gilt insbesondere für die Veröffentlichung „Ruhrgebiet“, in der ohne roten Faden Wissenswertes, Belangloses (z.B. im Aha-Häppchen über den Rhein) und unnützes Wissen aneinandergereiht wird. Im finalen Quiz lernen Leserin und Leser dann noch, dass die Krim ein Quartier in Recklinghausen ist, dass Hamm (im Übrigen neben anderen Städten!) aufgrund austretender Sole für eine gewisse Zeit Badekurort war und dass Herbert Grönemeyer nicht in Bochum, sondern in Göttingen geboren wurde, James Bond laut seiner fiktiven Biographie dagegen definitiv in Wattenscheid.
Da beide Bücher offensichtlich die ersten in einer sich entwickelnden Reihe sein sollen, wurde auch Bleidicks „Bergbau“ der Portionierung in Aha-Häppchen unterzogen. Methodisch bleibt diese Vorgehensweise auch hier mindestens unvorteilhaft, weil sie der verbindenden Darstellung der einzelnen Themen im Wege steht; allerdings vermochte sie die inhaltliche Qualität kaum zu beeinträchtigen. Trotz aller formalen Beschränkungen ist eine facettenreiche, qualitative und zugleich niederschwellige Darstellung des Ruhrbergbaus gelungen.